Kleine Bordpsychologie

Wie geht man mit der Situation des Eingesperrt sein um, mit der Enge an Bord, den kaum vorhandenen Rückzugsmöglichkeiten und der Reling als Grenze der Flucht? Wie kann man Konflikte vermeiden oder, wenn solche aufgetreten sind, diese lösen ohne daß einer auf offener See ausgesetzt werden muss? Was muss man während der Törnvorbereitung beachten?

So habe ich mir das Thema einmal angesehen und folgendes als Essenz herausgearbeitet:

Die totale Institution

Die Situation an Bord unterscheidet sich grundsätzlich nicht von der Situation in einem Gefängnis oder in einem Kloster. Soziologen bezeichnen solche Lebensbedingungen als „totale Institution“. Es gibt keine Trennung der sonst üblichen Lebensbereiche Arbeit, Freizeit und Schlaf. Alle Tätigkeiten werden im selben Lebensraum, unter derselben einzigen Autorität, dem Schiffsführer, durchgeführt. Die Kommunikationsmöglichkeiten sind auf die Crewmitglieder und – abgesehen vom Sprechfunk – nur auf diese beschränkt. Alle Rollen an Bord sind relativ festgelegt (Wacheinteilung, Sicherheitsrollen, etc.). Die soziale Dichte – das Leben auf 10 bis 20 qm Grundfläche – führt zu Stress. Daher ist auch in der Sportschifffahrt mit psychologischen Auswirkungen bei einer langen Überfahrt zu rechnen.

Von den äußeren Bedingungen her befindet sich jeder auf dem Schiff in einer existentiellen Situation, d. h. alle seine Tätigkeiten hängen unmittelbar mit seinem Überleben zusammen, woraus sich ergibt, dass nicht zählt, was ein Crewmitglied redet, sondern nur was er kann und leistet. Jedes Crewmitglied wird auf diese Weise verglichen mit dem normalen Landleben ein zweites Mal sozialisiert.

Habt ihr schon einmal beobachtet, dass z. B. Vögel sich mit gleichmäßigen Abständen auf den Telefondrähten verteilen und Tiere generell eine persönliche Pufferzone, den Nahbereich, um sich herum verteidigen? Männer verstehen das Thema unmittelbar: Geht in eine öffentliche Toilette. Der Abstand zum nächsten besetzten Pissoir ist nahezu immer maximal gewählt. Achtet drauf! Als ideale Distanz zu anderen Menschen wird generell eine Entfernung von 1,20 m bis 1,50 m angesehen. Auf Yachten werden die angegebenen Werte sozialer Distanz, insbesondere der Nahbereich, laufend unterschritten.

Jeder Mensch hat zudem das Bedürfnis hat, einen räumlichen und zeitlichen Bereich als „privat“ zu definieren. Aus diesem Grund ist es wichtig, dass jedes Crewmitglied sich für einige Zeit persönlich zurückziehen kann. Hierfür kann z. B. die Koje herhalten, was impliziert, das für jedes Crewmitglied eine feste Koje zur Verfügung stehen sollte, wo auch private Utensilien untergebracht werden können. Diese Privatbereiche sind von allen zu respektieren.

Auch das im Tierreich bekannte Territorialverhalten findet sich – wenn auch in nicht sehr ausgeprägter Weise – auf Yachten wieder. Territorialverhalten zeigt sich z. B. durch die Skipper-Kajüte, die nur und ausschließlich vom Skipper benutzt werden darf. Es zeigt sich aber auch dadurch, dass Crewmitglieder sich Aufgaben suchen und das dafür notwendige Territorium für sich beanspruchen, z. B. das Crewmitglied welches gerne kocht und die Kombüse als „seine“ bezeichnet, oder das Crewmitglied welches Navigation übernimmt und daher den Kartentisch für sich beansprucht. Beide sehen es als Übergriff auf ihr Territorium an, wenn andere „ihre“ Aufgabe übernehmen möchten, ihren Raum beanspruchen oder gar ihre Aufgaben überprüfen. Der Schiffsführer ist nun verantwortlich für alle Vorgänge auf dem Schiff, jedoch tut er sicherlich gut daran, wenn er derartige Überprüfungen nur durchführt, wenn dies aus Sicherheitsgründen ihm notwendig erscheint.

Territorialkonflikte sind oft Ausdruck von Konflikten, die mit den Gruppenstrukturen und den Machtansprüchen Einzelner zusammenhängen. Scheinbar nichtige Kleinigkeiten eskalieren dann zu tief greifenden Auseinandersetzungen. An Land führen im Allgemeinen derartige Auseinandersetzungen zu Flucht, die auf Yachten jedoch durch die Reling auf den ersten Blick beschränkt ist. Man bezeichnet derartige Reaktionen von Menschen aufgrund der sozialen Dichte als Crowding.

Was müssen wir nun tun, um einen derartigen Crowding Stress zu vermeiden? Hier eine Sammlung der wichtigsten Punkte:

  • klare Rollenverteilung und Hierarchien an Bord
  • klare Interaktionsbedingungen (wer muss was wann in welcher Form mitteilen oder nachfragen)
  • gut funktionierende soziale Interaktion
  • Gruppenzusammenhalt
  • kooperatives Verhalten
  • rationale statt emotionale Problemdiskussion
  • das Wissen, das Crowding entstehen kann, kann die Wahrscheinlichkeit des Crowdings verringern
  • zeitweiliges Schließen von Schotten, Türen, um räumliche Distanz und Rückzug zu ermöglichen
  • sich selbst suggerieren, dass räumliche Nähe auch Vorteile hat
  • die Crew nicht zu groß wählen
  • jedem Crewmitglied seine / ihre Koje zuteilen
  • die Crewmitglieder frühzeitig mit dem Gedanken der Enge vertraut machen
  • Orientierung der Crew auf die gemeinsame Tätigkeit, damit die Enge in den Hintergrund tritt
  • Die auf den ersten Blick vorhandene Reling als Grenze zur Flucht kann auch als Chance oder Pflicht angesehen werden, um Probleme aktiv anzugehen und zu lösen. Dies kann durch den Skipper gefördert und unterstützt werden.
    (Siehe Kommentar: Herzlichen Dank, Ernst)
  • Bei auftretender Bord- bzw. Isolationsdepression als Folge des Stresses das Crewmitglied in die Bordaktivitäten mehr mit einbeziehen. Isolationsdepressionen können auftreten, wenn aufgrund nicht kompatibler Persönlichkeiten oder zu unterschiedliches seemännisches Können sich Crewmitglieder zurückziehen.

Die Aufgabe des Skippers ist es, obige Punkte zu kennen, zu erkennen und zu berücksichtigen.

Gruppendynamik an Bord

Wenn eine Gruppe zu Beginn eines Urlaubstörns an Bord kommt, stellt sie noch keine Gruppe dar. Es handelt sich lediglich um eine Ansammlung von Individuen. Die Gruppe muss sich erst noch „finden“. Die Gruppenmitglieder „beschnuppern“ sich und die spezifischen Stärken und Schwächen stellen sich erst nach ein paar Tagen dar. Es bilden sich dann erst Strukturen und Rangordnungen. Von einem weiss man, dass er der Skipper ist, dieser muss das aber erst noch „beweisen“, damit er als solcher auch akzeptiert wird.

Betrachten wir wieder das Tierreich: Rangordnungen werden im Tierreich im Hühnerhof beobachtet: Jedes Huhn tritt zu jedem anderen in eine bestimmte Rangbeziehung, die dadurch kenntlich wird, ob es das andere Huhn selbst hacken kann oder hinnehmen muss, dass es von ihm gehackt wird. Diese „Hackordnung“ finden wir auch in isolierten Gruppen, also an Bord, wieder.

Die Stärkung des Wir-Gefühls ist nun die Aufgabe des Skippers. Je mehr die Mitglieder einer Gruppe zu einer Wir-Gruppe werden, umso stärker heben sie sich gegen andere Gruppen, z. B. andere Crews, ab. Eine optimale Gruppengröße liegt bei ca. 6 Personen. Je größer die Gruppe, desto mehr Untergruppen bilden sich. Auf größeren Schiffen ist es daher wichtig die Gruppenstrukturen zu kennen, da durch geschickte Aufgabenverteilung somit Streitigkeiten vermieden werden können und die Gruppen in sich effektiver werden und Leistungen zeigen können, die die einzelnen Mitglieder der Gruppe so nicht erreichen können, sondern wozu nur die Gruppe als ganzes in der Lage ist und somit emergente Eigenschaften aufweist.
(Siehe Kommentar: Herzlichen Dank, Ernst)

Wie reden Gruppen miteinander und tauschen Informationen aus? Hier gibt es drei wesentliche Kommunikationsarten:

  1. Vollstruktur: Jeder redet mit jedem
  2. Sternstruktur: Einer, der Skipper, redet mit allen einzeln
  3. Kettenstruktur: Der Skipper redet mit Leadern, die wiederum mit den Teilen der Crew reden

Während in der Vollstruktur die Kommunikationsgeschwindigkeit am höchsten ist, ist die Führungsrolle des Skippers in der Vollstruktur eher unbestimmt und in der Sternstruktur am größten. Die Zufriedenheit der Crewmitglieder ist häufig in der Vollstruktur am größten, in der Kettenstruktur mittel und in der Sternstruktur am geringsten. Die Effektivität der Schiffsführung ist in Kriesensituation sicherlich am höchsten zu bewerten. So sollte jeder Schiffsführer einige selbstkritische Gedanken auf seinen Führungs- und Kommunikationsstil verschwenden. Sicherlich ist bei kleinen Crews eine sternförmige Kommunikation nicht angemessen, jedoch sollte nicht jede Entscheidung basisdemokratisch in einer Vollstruktur diskutiert werden. Die Kommunikation des Skippers erfordert in der Vollstruktur mehr Führungsqualitäten, Überzeugungskraft und Sachautorität als bei der Kommunikationsstruktur vom Typ Stern oder Kette, bei denen die Führungsrolle perse strukturell abgesicherter ist.

Fazit:

Menschen sind außerordentlich anpassungsfähig, auch an die ungünstigsten Bedingungen auf hoher See und in beengten Verhältnissen. Sind die Mechanismen bekannt und werden sie transparent gemacht, so sind massiven Auswirkungen kaum zu erwarten, solange sich Menschen den Verhältnissen an Bord und auf See freiwillig aussetzen. Es ist die Aufgabe des Skippers, sich mit der Gruppe auseinanderzusetzen und Eskalationen frühzeitig zu begegnen. Da ich weiss, dass auch „mein Skipper“ sich mit diesen Punkten schon beschäftigt hat, wird es hier sicherlich zu keinen Problemen kommen. Aber ich werde dandn ja berichten…

Für weitere Informationen zum Thema Bordpsychologie könnt ihr auch nachlesen in Michael Stadler, Psychologie an Bord, Delius Klasing Verlag.